Wenn das Gehirn zur Randerscheinung wird
Fallbericht Neurologie:i Als ein 44-jähriger Verwaltungsbeamter mit leichter Schwäche im linken Bein Hilfe in einer Marseiller Klinik sucht, ahnen weder er noch die Ärzte, mit welcher medizinischen Besonderheit sie konfrontiert werden. Der Blick aufs CT zeigt, dass sich das Gehirn nicht dort befindet, wo es sein sollte.
Die genauere Betrachtung enthüllt: Sein Gehirn wird als schmale Schicht an den Rand des Schädels gepresst. Denn der Patient weist eine massive Erweiterung der seitlichen, dritten und vierten Hirnventrikel auf -selbst für gestandene Mediziner ein ebenso kurioses wie schockierendes Bild. Zusätzlich decken die CT-Bilder des Mannes auf, dass seine Hirnhaut sehr dünn ist und dass er eine Zyste in der hinteren Schädelgrube hat. Der erste Therapieversuch, eine neuroendeskopisch durchgeführte Ventrikulozisternostomie (Drainage vom Seitenventrikel in die Cisterna magna), lindert die Beinschwäche nur kurzfristig.
Ebenso spektakulär wie der Befund ist das Ergebnis neuropsychologischer Tests, denn der Mann hat trotz seines extrem verkleinerten Gehirns einen Intelligenzquotienten von 75 - und liegt damit zwar unter dem Durchschnitt, aber noch im unteren „normalen" Spektrum. Außerdem zeigt der Patient ein normales Sozialverhalten und keine weiteren Auffälligkeiten. Doch wie ist das möglich?
Auflösung
Ein Blick in die Krankengeschichte des Mannes bestätigt die Vermutung der Neurologen: Er leidet an einer schweren Form eines Hydrozephalus' (Erweiterung der Hirnventrikel aufgrund von Flüssigkeitseinlagerungen), der sich erstmals im Alter von 6 Monaten bemerkbar machte. Damals bekam der Patient einen ventrikulo-atrialen Shunt (Verbindung zwischen Gehirn und rechtem Vorhof des Herzens) gesetzt. Dieser musste jedoch entfernt werden, als er mit 14 Jahren eine Ataxie (gestörte Muskelkoordination) und eine Parese (leichte Lähmung) des linken Beins entwickelte. Seine weitere neurologische Entwicklung verlief scheinbar normal, obwohl sein Gehirn beidseitig an Frontal-, Parietal-, Temporal- und Okzipitallappen verkleinert ist.
Der zweite Therapieversuch, das Setzen eines ventrikulo-peritonealen Shunts (Verbindung zwischen Gehirn und Bauchhöhle) flihrt zur vollständigen Genesung des Patienten. Doch eins bleibt kurioserweise gleich: nachfolgende CTs zeigen, dass sich die Größe seines Gehirns nicht verändert. Dass der Mann mit dem winzigen Gehirn dennoch ein ganz normales Leben führen kann, ist der extremen Elastizität und Anpassungsfähigkeit des außerordentlichen Organs zu verdanken.2
1 Feuillet, Lionel, Henry Dufour und Jean Pelletier. ßrain of a white-collar worker. The Lancet 370.9583 (2007): 262.
2 Man with tiny brain shocksdoctors. New Scientist, erschienen am 20.07.2007, unter
www.newscientist.com/article/dn12301-man-with-tiny-brain-shocks-doctors/ (abgerufen am 07.01.2020)